Ablehnung des Vorrangs des Sachleistungsprinzips bei zur Ausreise verpflichteter Ausländer 22. Februar 202224. Februar 2022 Foto: Pexels / Markus Spiske Rede zum AfD-Antrag „Vorrang des Sachleistungsprinzips bei zur Ausreise verpflichteten Ausländern“ in der 7. Kreistagssitzung am 07.02.2022, gehalten von Dorothea Garotti, Bündnis 90/ Die Grünen, Mitglied des Kreistages. Sehr geehrter Herr Vorsitzender, sehr geehrte Damen und Herren! Der grundsätzliche Vorrang von Sachleistungen für Geflüchtete in Aufnahmeeinrichtungen ist im Asylbewerberleistungsgesetz festgeschrieben – für Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen, ist die Anwendung des Sachleistungsprinzips gesetzlich möglich – aber nur, soweit dies mit vertretbarem Verwaltungsaufwand durchführbar ist. Wenn die AfD hier darstellt, dass der Lahn-Dill-Kreis im Jahr 2020 fast 1,5 Millionen Euro an Sozialleistungen an Ausländer ausgezahlt hat, die zum Zeitpunkt der Leistungsgewährung zur Ausreise verpflichtet waren, dann verschweigt sie dabei, dass es sich bei dem überwiegenden Teil dieser Leistungsempfänger um „Geduldete“ – also Menschen, deren Ausreisepflicht aus gutem Grund ausgesetzt wurde – handelt. Geduldete sind zwar weiterhin prinzipiell ausreisepflichtig, können aber aus vielfältigen Gründen nicht in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Nicht Wenige leben bei uns über viele Jahre mit einer „Duldung“ nach §60a Aufenthaltsgesetz. Mit Stichtag 31.12.2021 gab es in Hessen 16.780 ausreisepflichtige Personen (dazu zählten auch Tourist*innen und Student*innen, deren Visum abgelaufen ist), darunter waren 13.036 Personen im Besitz einer Duldung und damit Leistungsberechtigt – (3744 Personen hessenweit). Und, gerade für Sie Herr Mulch – der Sie sich doch oft und gerne auf unser Grundgesetz berufen: GG Artikel 1 Abs. 1 Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. GG Artikel 20 Abs. 1 Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum einschließlich der sozialen Teilhabe in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss. Diese beiden Artikel garantieren ein menschenwürdiges Existenzminimum, das durch im Sozialstaat auszugestaltende Leistungen zu sichern ist, als einheitliches, das physische und soziokulturelle Minimum umfassendes Grundrecht. Ausländische Staatsangehörige verlieren den Geltungsanspruch als soziale Individuen nicht dadurch, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in Deutschland nur vorübergehend aufhalten. Diese grundgesetzlich garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren! Alles bestätigt durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die im Antrag der AfD-Fraktion zentrale Forderung, zusätzlich zum physischen Existenzminimum auch das soziokulturelle Existenzminimum im Asylbewerberleistungsgesetz als Sachleistung auszugeben, würde zu einer vollständigen Entmündigung und Entrechtung der betroffenen Personen führen. Kein Geld in einer Gesellschaft, die auf Geld gebaut ist, ist für die Betroffenen zutiefst diskriminierend und stigmatisiert sie als unerwünschte Fremde. Auf der Grundlage des Sachleistungsprinzips wird tief in das Selbstbestimmungsrecht von Geflüchteten eingegriffen. Sie haben keinen Einfluss darauf, was sie und ihre Kinder essen, oder welche Seife oder Zahncreme sie verwenden. Sie können sich keine Fahrkarte kaufen und nicht telefonieren. Mit Sachleistungen kann das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht gewährleistet werden, weil die individuellen Bedürfnisse der Menschen zu unterschiedlich sind. Und dann: der immer wieder gebetsmühlenartig von der AfD-Fraktion angeführte zentrale „Pull-Faktor“ für illegale Migration nach Deutschland durch Geldleistungen. Die überwiegende Zahl der Schutzsuchenden kommt aus Kriegs- oder Krisengebieten. Die Annahme, dass die Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz einen Anreiz für die Flucht nach Deutschland darstelle, entbehrt jedweder Logik. Eine solche Argumentation ist eine Verhöhnung der geflüchteten Menschen und ihrer Beweggründe. Arrogant zu glauben, wenn wir uns und unser Land so ungastlich wie möglich darstellen, würden Menschen auf der Flucht, den Weg zu uns nicht mehr suchen. Eine Gewährung des sozialen Existenzminimums in Form von reinen Sachleistungen, ist mit einem deutlich erhöhten Verwaltungs- und logistischem Aufwand verbunden. Die zuständigen Abteilungen müssen konkret notwendige Bedarfe ermitteln und vorhalten, oder aber Drittanbieter beauftragen. Gespart wird hier garnichts. Ganz im Gegenteil. Wir werden diesen Antrag ablehnen. Hinweis: Es handelt sich bei dieser Rede um die Niederschrift einer im Kreistag gehaltenen Rede. Es gilt das gesprochene Wort.